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Prima Quallerina

 

Prima Quallerina

Einzelausstellung, 24.9. – 18.10.2020, Kunstverein Braunschweig

Motive des Umhertreibens und der Ortlosigkeit durchziehen die Ausstellung Prima Quallerina von Markues in der Remise des Kunstverein Braunschweig. Entkernte Waschmaschinen liegen wie Wracks auf dem Boden des Ausstellungsraums. Ihrer Häuslichkeit und ihrer Funktion beraubt, treten die versteiften Seitenteile, die Durchbrüche und Ausstanzungen als sinnlose Verzierungen in den Vordergrund. Auf den Gehäusen sind Aquarelle wie Polypen sesshaft geworden. Markues schlägt einen formalen Blick auf die Objekte und die darauf liegenden Zeichnungen vor, die nach allen Seiten fortsetzbar scheinen und vor den Augen der Betrachtenden über die Blattränder und über die Gehäuse hinaus zerfließen.

Quallen sind den Strömungen des Meeres ausgesetzt und können ihre Richtung nur wenig beeinflussen. Wie Medusen, die ein Polyp durch das Abschnüren einzelner Segmente bildet, sind auch die Ornamente in den Aquarellen von Markues von ihrem Ursprung entfernt. Die Formen der Serie The Troubled Waters of Ethnic Heritage sind Westerwälder Steinzeug, Bunzlauer Keramik oder auch Teppichen, Vorhängen, Tapeten und Kartenspielen entlehnt, die sich in der Werkserie in lasierend aufgetragenen Farbschichten wie verwaschene Keramikglasuren in blassen Blau-, Violett-, Grau- und Grüntönen überlagern. Markues richtet den Blick auf das Ornamentale und überführt dessen vermeintliche Nutzlosigkeit in eine malerische Fragestellung. Die Arbeiten lassen keine klar abgrenzbare stilistische oder geografische Verortung zu, doch sie erinnern an dekorierte Gebrauchsgegenstände in Arbeitermilieus, die oftmals aus der Notwendigkeit heraus und nicht nach gestalterischen Gesichtspunkten ausgewählt werden müssen. Waren einzelne Verzierungen womöglich einmal herrschaftliche Insignien, sind sie nun zusammenhangslos angehäufte Symbole ohne Status.

Statt die eigene Herkunft authentisch zu illustrieren, setzt Markues auf eine doppelte Verschiebung: Die Erwartung an die künstlerische Produktion gesellschaftlicher Minderheiten, ihre eigene Biografie zu Markte zu tragen, wird von den Zeichnungen nur scheinbar erfüllt und durch die Titel der einzelnen Blätter haltlos übersteigert. Die Titel sind als Zitate gekennzeichnet, ihr Kontext wird angedeutet, aber der genaue Ursprung bleibt unbenannt. Es sind Zitate aus dem Umfeld der deutschen Zwangsumgesiedelten zwischen 1945 und 1950, die in ihrer Selbstpositionierung als „Heimatvertriebene“ eine Melange aus Nostalgie und Ressentiment fortschrieben und die Verstrickungen in die Verbrechen des Nationalsozialismus oft mit ihrem eigenen Leid der Aussiedlung überdeckten. Die Aquarelle lassen sich aus den Titeln heraus jedoch nicht direkt erklären; sie starren milchig unbestimmt zurück, wenn identitäre Phantasien in ihnen vermutet werden.

Wie lässt sich mit ethnischer Herkunft umgehen, wenn deren über Bord werfen unmöglich ist und deren Affirmation zugleich außer Frage steht? The Troubled Waters of Ethnic Heritage beschreibt eine solche Situation. Durch den Einsatz und die Überlagerung von Zitaten und ornamentalen Formen gelingt es den Werken, Heimatlosigkeit als Möglichkeit zu denken, die ethno-nationalistische Zuschreibungen hinter sich lässt. Denn in den Titeln liegt bei aller Ambivalenz auch das Potential, die sprachlichen Beschreibungen verschiedener Fluchterfahrungen ins Bewusstsein zu rufen, da der konkrete Kontext der Zitate und malerischen Ornamente so aufgelöst erscheint, dass sie nicht mit individuellen Erfahrungen in eins fallen oder diese relativieren.

Der schillernde Vorhang Window, zieht sich in mehreren Lagen durch den Ausstellungsraum. Seine Streifen erinnern an durch eine Wasseroberfläche gebrochenes Licht, Seetang und Nesselfäden. Der Vorhang rekurriert auf die „Window“ genannte Technik der Radarstörung, bei der metallbedampfte Streifen aus Flugzeugen abgeworfen werden, um deren Ortung zu erschweren. Der in der Arbeit verwendete Farbton Chroma Blue wird in der digitalen Bildbearbeitung genutzt, um Objekte vor Blue Screens freizustellen und in beliebige Szenen einzusetzen. So verwandelt Markues das Innere des Ausstellungsraums in eine gebrochene Projektionsfläche, auf der Ursprünge unbestimmbar werden.

Vier Lesungen literarischer Texte aktivieren während der Ausstellungsdauer den Raum. Allen Texten ist gemein, dass ihre Protagonist_innen das erste Mal ihr angestammtes Umfeld verlassen und als erste Generation umhertreiben – sie sind Prima Quallerinas.

  • 24.9.2020, Nadira Husain und Markues lesen Die Bastardin von Violette Leduc
  • 1.10.2020, Ulrike Bernard liest Außer sich von Sasha Marianna Salzmann
  • 8.10.2020, Alicia Agustín liest Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun
  • 18.10.2020, Thomas Love liest Dawn (Xenogenesis) von Octavia E. Butler

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Prima Quallerina

 

„Die absolute Freiheit – es gab viele Heidelbeeren, Brombeeren, Himbeeren, Pilze, wilde Kirschen und noch mehr“

Markues

2020

„Sie hielten an und schauten uns nach, niemand wollte diese Fremden, die auch einen anderen Glauben hatten“

Markues

2020

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Prima Quallerina

 

„So in der Reihenfolge wie der Vormittag verlief auch der Nachmittag nur mit dem Unterschied, dass sich alle auf den Feierabend freuten“

Markues

2020

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Prima Quallerina

 

„In meiner Heimat gab es noch keine so hochgezüchteten Rinder wie heute“

Markues

2020

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Prima Quallerina

 

„Wir stellen heute oft die Frage nach dem Lebenssinn jener im Abseits verbliebenen Menschenschicksale“

Markues

2020

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Prima Quallerina

 

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Prima Quallerina

 

 „Eine Nachtwache war aufgestellt, die Streife ging. Denn es war eine unsichere Zeit, wir durften das Lager nicht verlassen“

Markues

2020

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Prima Quallerina

 

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Prima Quallerina

 

Prima Quallerina wurde von Raoul Klooker kuratiert.

 

Ein herzliches Danke an Alicia Agustín, Ulrike Bernard, Nick Courtman, Heike-Karin Föll, Benno Hauswaldt, Cornelia Herfurtner, Jule Hillgärtner, Nadira Husain, Nele Kaczmarek, Gerald Knöchel, Linda Kuhn, Mike Laufenberg, Genesis Lauu, Andreas Linke, Thomas Love, Michaela Meise, David Moses, Henrike Naumann, Sasha Marianna Salzmann, Iris Schneider, Valeria Slizevic, Stefan Stark, Lee Stevens, Clemens Villinger und Eike Wittrock.