Step Away
Einzelausstellung, PSM, Berlin, 1.9. – 23.10.2022
Unförmige mit Tarnnetzen verhüllte Haufen befinden sich in den Räumen der Galerie. Unter den Tarnnetzen sind Objekte aus dem Bereich der Naherholung: Gestelle von Sonnenschirmen, gestapelte Stühle, zusammengeklappte Liegen, Schlafsäcke und vergessene Handtücher. Es sind verstaute Relikte, die sich an Strandpromenaden, Terrassen und Schrebergärten finden lassen. In der Halböffentlichkeit am Strand brutzelt man leicht bekleidet unter Fremden, ein Schrebergarten ist nur ein privates Idyll, wenn es gelingt, die fünfzig Nachbar_innen zu ignorieren. Durch die Tarnnetze treten diese Objekte den Besucher_innen in einer merkwürdigen Entfremdung gegenüber. Tarnung funktioniert nur durch die Anpassung an einen Ort und seine Umgebung, aber gleichzeitig zeigt sie den Wunsch, dieser Umgebung zu entkommen oder sie zu überwinden. An dieser Schwelle zwischen Ort und Nichtort, präsentiert Markues eigene Aquarelle und Malereien von Juwelia St. St.
Step Away bedeutet einen Schritt zur Seite zu treten, einer Pflicht zu entsagen, zu desertieren oder sich zurückzuziehen. In diesen kurzen Momenten liegt für den Autor Alfred Andersch die Freiheit: „Aber man ist niemals frei, wenn man gegen das Schicksal kämpft. Man ist überhaupt niemals frei außer in den Augenblicken, in denen man sich aus dem Schicksal herausfallen lässt.“ Diese Vorstellung von Freiheit als momenthaft und auf das eigene Schicksal bezogen durchzieht die sechs Lesungen literarischer Texte, die während der Ausstellungsdauer den Raum aktivieren. Die Protagonist_innen der Texte berichten von unterschiedlichen Weisen, die an sie herangetragene Erwartungen ins Leere laufen zu lassen. Sie erinnern an die Folgen von Kriegen und nationalistischem Denken auf das Individuum. Sie vergegenwärtigen, dass queere und marginalisierte Menschen in nationalistischen Erzählungen des Westens jenseits von instrumenteller Symbolpolitik wie Homonationalismus nicht vorkommen. Sie wissen darum, dass Queers nicht Teil des Volkskörpers sind. Die Auswahl der Texte führt auch vor Augen welche Sensibilitäten und Haltungen unter die Räder kommen, wenn ausschließlich in militaristischen Kategorien und zu verteidigenden Werten gedacht wird.
Markues Aquarelle aus der Serie Für die Männer & die Anderen zieren als Überbleibsel der Lautsprache und visuelle Entsprechung dieser kurzen Momente von Freiheit die Wände. Die Sätze lassen sich nicht aussprechen, zumindest nicht so wie sie auf den Blättern gezeichnet wurden. Sie ziehen sich aus der Sphäre politischer Kommunikation bis an die Grenze der Unleserlichkeit zurück. Die Buchstaben verwandeln sich in Kleckse und formlose Gesten, suchen nach einer anderen Form von Rhetorik, die sich der Logik des sich überbietenden Männlichen widersetzt. Der Titel Für die Männer & die Anderen ist eine gebrochene Ansprache, eine in der Schwebe gehaltene Aufforderung. We Don’t Need Another Hero lässt leise Tina Turners Song erklingen, sagt den Männern, dass wir ihr Heldentum nicht brauchen und enthält für die Anderen jedoch auch die egalitäre Vision einer Gesellschaft ohne Führer_innen. Leben und lieben lassen ist ein Zitat Heinz Hegers, der darüber schrieb, wie es ihm gelang seine KZ-Haft zu überleben. Die Aquarelle rufen in Erinnerung, dass künstlerische Strategien in einer sich aufrüstenden Gegenwart nicht unbedingt in einem Angebot von Eindeutigkeit und Sinn liegen müssen.
Die Loggia der Galerie ist kleinformatigen Malereien von Juwelia St. St. gewidmet. Aus ihrem breiten künstlerischen Oeuvre zeigt PSM eine Auswahl an Gärten und Seestücken. Es sind Szenen des kleinen Glücks, des realen und imaginären Rückzugs, denn „wenn ich aus der Erinnerung male wird es noch phantastischer“. Auch wenn Juwelia als Schrebergarten-Hockney die Betrachter_innen zu einem kurzen Abschied vom harschen Alltag der Stadt einlädt, verfällt sie nicht einem glorifizierten Landleben. Die Szenen bleiben indirekt mit der Stadt verbunden, ein kurzweiliges Ausspannen, das Wochenende an der Nordsee, ein Nachmittag im Schrebergarten und nicht das Aussteigerglück in der Uckermark. Juwelias Malweise ist dabei manieristisch und anarchistisch zugleich. Blattwerk und Blüten füllen die Bildfläche wie ein Millefleur, Pflanzen wachsen, wie es ihnen beliebt, und überwuchern manchmal Liebespaare, Champagnerflaschen und Törtchen. Ihre malerische Tätigkeit behauptet trotzig und doch selbstbestimmt die Möglichkeit einer besseren Welt, die derzeit nicht von Dauer sein kann. Die Schönheit ihrer Bilder liegt darin, dass sie nicht moduliert; die einzelnen Farbtöne stehen nebeneinander, verschmelzen nicht, kümmern sich nicht um eine Realität jenseits ihrer selbst. Sie fügen sich nicht zu einem malerischen oder politischen Programm. Juwelias Stärke liegt darin, sich trotz Widrigkeiten eine Welt nach ihren Maßstäben zu gestalten, wie z.B. in ihrer Galerie Studio St. St. in der Neuköllner Sanderstraße, wo Juwelia jeden Freitag und Samstag ihre Gäste besingt, malt, unterhält, betüdelt und brüskiert.
Markues and Juwelia entwerfen beide Räume und Orte, die nicht komplett verlassen sind. Es sind Orte, an denen Vorstellungen der Gegenwart hinter sich gelassen werden können und die oft nur einen Schritt entfernt sind.
- 3.9.2022, Juwelia St.St. und Markues lesen Die Kirschen der Freiheit von Alfred Andersch
- 17.9.2022, Craig Teatime liest The Naked Civil Servant von Quentin Crisp
- 24.9.2022, Monilola Olayemi Ilupeju liest aus Texten von Akwaeke Emezi und Rose Allatini
- 1.10.2022, Esra Nagel liest Time Is a Thing the Body Moves Through von T Fleischmann
- 8.10.2022, Jayrôme C. Robinet liest Notizen aus dem Untergrund von Fjodor Dostojewski
- 15.10.2022, Nine Yamamoto-Masson liest aus Texten der Geschichte des japanischen Anarchismus und Antimilitarismus
Dank an Al Zubair und Mazen, Gilad Baram, Sophie Erlund, Andris Freibergs, Nadira Husain, Monilola Olayemi Ilupeju, Dirck Linck, Thomas Love, John MacLean, Wolfgang Müller, Esra Nagel, Tobias Purfürst, Jayrôme C. Robinet, Tobias Schiller, Craig Teatime, Arthur Tchepi, Tran Mai Huy-Thong, Nine Yamamoto-Masson und Eike Wittrock.