Am Boden bleiben
Zusammenfassung
In dem hessischen Dorf, in dem ich aufwuchs, gründete sich 1923 einer der ältesten Segelflugvereine der Welt. Anlässlich des 100-jährigen Bestehens machte der Segelfliegerclub kürzlich sein Archiv der Öffentlichkeit zugänglich. Am Boden bleiben ist eine künstlerische Erforschung dieses Archivs.
Das Archiv des Segelflugs ist ein Archiv der Verbindung von (Männer-)Körpern und Technologie. Das Archiv des Segelflugs ist ein Archiv der Verdrängung nationalsozialistischer Jugendpädagogik. Das Archiv des Segelflugs ist ein Archiv der Geschichte der Re-Militarisierung von Deutschland. Das Archiv des Segelflugs ist ein Archiv phantasieloser Skulpturen, die sich durch die Luft bewegen.
Am Boden bleiben soll einen künstlerischen Beitrag dazu leisten, die Geschichte des Segelflugs als eine der größten Jugendkampagnen des Nationalsozialismus zurück ins Gedächtnis zu rufen. Die politische Aufladung dieses Breitensportes wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kleingeredet und soll in diesem Projekt für Menschen, die in diesem Vereinsmilieu sozialisiert wurden, sprechbar und fühlbar gemacht werden. Dazu möchte ich künstlerisch-forschende Vorgehensweisen entwickeln, die kritisch und konkret zurückschauen. Statt eines technokratischen Blicks auf die Vergangenheit möchte ich einen Raum schaffen, in dem durch gemeinsame Lektüre und Schreiben neue Verhältnisse zur eigenen (verkörperlichen) Biografie geschaffen werden.
Dies geschieht in drei Schritten. Zur Vorbereitung einer Schreibwerkstatt möchte ich 1. mit Historiker_innen, Künstler_innen und Referent_innen aus der historischen Bildungsarbeit in einem öffentlichen Seminar eine kleine Publikation entwickeln, die als Wegweiser für die Recherche der Schreibenden und mir dient. In der Schreibwerkstatt entstehen 2. Texte speziell für meine Installation. Ausgehend von der Holm-Rippenbauweise historischer Segelflugmodelle möchte ich 3. Raumteiler für eine Installation schaffen, von denen ein Teil vor Ort im Gebälk der Segelflughalle verbleiben soll.
Ziel des Projekts ist, meine bisheriger Praxis, um einen neuen Werkstoff und eine neue Gemeinschaftsstechnik zu ergänzen
1. Historischer Kontext
Die Geschichte des in Verbänden und Vereinen organisierten Segelflugs ist in Deutschland nicht ohne die Geschichte von De- und Militarisierung nach den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zu denken. Das mit dem Versailler Vertrag einhergehende Verbot des Motorflugs führte in den 1920er Jahren zu einem Boom des Segelflugs, um weiter am internationalen Wettrennen teilzuhaben. Nach der Machtübernahme durch die NSDAP wurden die einzelnen Vereine zum Nationalsozialistischen Fliegerkorps (NSFK) zusammengefasst. Hermann Görings Parole „Das Deutsche Volk muss ein Volk der Flieger werden“ (1934) verdeutlicht die Rolle, die der Segelflug für die Nationalsozialistische Propaganda hatte. Bereits in den Schulen und in der Hitlerjugend wurden Kinder an den Segelflug herangeführt. Als niedrigschwellige und ganzheitliche Einführung in die Naturwissenschaft propagiert, wurden in diesem Milieu junge Männer zu späteren Piloten der Luftwaffe erzogen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges herrschte zunächst wieder ein Flugverbot in Deutschland. Durch den Einsatz derjenigen Männer, die oft auch am Krieg beteiligt waren, wurde der Segelflug jedoch erneut ein Sport, der bis heute breite Bevölkerungsschichten anspricht. Segelflug in Deutschland ist durch Abstraktion – oder Verdrängung? – der politischen Ideologie der Geschichte seiner Vereine geprägt. Dieser Vereinsgeschichte widmet sich dieses Projekt.
2. Körperbilder – Kontinuitäten
Klaus Theweleits Studie Männerphantasien beschreibt den verkörperlichten Zusammenhang von Mann und Maschine in den soldatischen Männern. Ihnen fehle durch ihre Erziehung ein sicheres Ich, daher sind sie auf äußere Stabilisierung – wie durch eine Maschine oder eine starr hierarchische Gesellschaft – angewiesen. Sind nicht auch die Segelflugzeuge mit ihren auf einen Körper zugeschnittenen Proportionen eine solche Stabilisierung des Ich, trotz des oft bekundeten Willens der Flieger, frei von der Gesellschaft und über den Wolken sein zu wollen? Theweleit beschreibt die Verdrängungseffekte dieser Weltsicht wie folgt: „Der Ursprung dieser Utopie liegt nicht in der Technisierung der Produktionsmittel; er hat mit der Entwicklung der maschinellen Technik nichts zu tun. Sie wird lediglich benutzt, etwas dem Körper dieser Männer spezifisches auszudrücken. Der Ursprung der konservativen Utopie vom maschinisierten Leib liegt vielmehr in der Notwendigkeit, das eigene Menschliche, das Es, die Produktionskraft des Unbewussten, in sich zu beherrschen, von sich abzustoßen.“ (Theweleit, 2019, S. 714).
Es wäre zu vereinfachend zu sagen, dass dieses Körperbild nach dem Zweiten Weltkrieg ungebrochen fortbestand. Verschwunden ist es jedoch keinesfalls komplett. So wurde der bedeutendste Erziehungsratgeber des Dritten Reichs, Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind der Lungenärztin Johanna Haarer, bis in die 1980er Jahre nachgedruckt und erreichte insgesamt eine Auflage von über 1 Millionen Exemplaren. In Anlehnung an die kritische Psychoanalytikerin Sigrid Chamberlain lässt sich behaupten, dass viele Deutsche eine Erziehung nach Standards des Nationalsozialismus erhielten – und dies ohne es zu wissen.
3. Methoden und Gemeinschaft
Ich erhoffe mir durch die Arbeit im Archiv Erkenntnisse über die eigene Herkunft zu erschließen, deren Beispielhaftigkeit auch Rückschlüsse auf das Allgemeine zulassen. Ich möchte das Archiv in einem Verfahren durchsuchen, das ich „Close-to-home-Reading“ nenne. Dabei gehe ich aus von der eigenen Erfahrung aus, dem Aufwachsen in diesem kunstfernen und proletarischen Milieu, von dem ich mich durch Studium und großstädtisches Leben stark entfremdete. Ich möchte versuchen, die eigene Phantasielosigkeit vor dem Hintergrund verdrängter körperlicher Sozialisierung nachzuvollziehen. Eine Phantasielosigkeit auch gegenüber gesellschaftlichen Gegenerzählungen, die die mich dazu bringt stattdessen auf eine Politik der Unterbrechung des Alltags und der Selbstwahrnehmung zu setzen.
- Schritt 1: Seminar Ein Volk am Boden
Am Boden bleiben ist als Prozess angelegt, der auf mehreren Ebenen sicht- und erfahrbar wird. Vor der Schreibwerkstatt veranstalte ich ein öffentliches Seminar mit Diskussion, welches darauf angelegt ist, eine kritische Perspektive auf die Geschichte des Segelflugs zu entwickeln und diese mit der eigenen Sozialisierung der Werkstattteilnehmenden zu verbinden. Die Ergebnisse aus diesem Workshop bündele ich in einem kleinen Zine, das sowohl eine Einführung in kritische Methoden als auch eine Übersicht über Orte der Recherche, wie die Militärarchive, beinhaltet. - Schritt 2: Schreibwerkstatt Landung in der Gegenwart
Zugleich möchte ich meine Praxis des gemeinsamen Lesens in eine Geschichtswerkstatt überführen, in der ich mit anderen Menschen, die im Umfeld der Segelflieger sozialisiert wurden, arbeite. Dazu möchte ich mit der Ernst-Ludwig-Chambré Stiftung zusammenarbeiten, die in der politischen Bildungsarbeit für Jugendliche im Themenfeld „Erinnern des Holocaust“ tätig ist und an der nahe gelegenen Universität Gießen ansäßig ist. Dieses zunächst nicht auf künstlerischen Output angelegte Verfahren folgt dem Paradigma „Grabe, wo du stehst!“ und steht in der Tradition der Social History, einer herrschaftskritischen Geschichtsschreibung aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mir ist wichtig, dass dieser Prozess für die Mitschreibenden sinnstiftend ist und wir gemeinsam einen Ort der kritischen Auseinandersetzung schaffen, der die eigene Körperlichkeit und Erfahrung miteinschließt. Für dieses Experiment baue ich eine Installation, in der die eigens dafür verfassten Texte gelesen werden. - Schritt 3: Das skulpturale und sprachliche Vokabular der Luft erfahrbar machen
Auf der Ebene meiner bildhauerischen Praxis möchte ich mir den Werkstoff Holz erschließen, spezifisch die Holm-Rippenbauweise. Inspiriert von dieser Technik des historischen Flugzeugbaus entstehen leichtgewichtige, stabile und aerodynamische Formen als minimalistische und durchbrochene Raumteiler. Diese lassen sich nicht als Verlängerung des individuellen Körpers verstehen, sondern schaffen einen Raum für gemeinsames Zuhören, der zugleich faschistische Körperbilder durchbricht. Als konkrete bildhauerische Arbeit möchte ich mit und für den Segelfliegerverein eine Installation schaffen, von der ein Teil permanent im Gebälk der historischen Flughalle verbleibt, ein anderer jedoch an anderen (institutionellen Ausstellungs-)Räumen gezeigt wird. Die Texte, die an diesem Ort gezeigt werden, speisen sich aus für ihn verfassten biografischen Erzählungen sowie bereits bestehenden literarischen Werken.